Die italienische Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die italienische Verwaltungsgerichtsbarkeit

von DR. MARCO MORGANTINI

Richter am Verwaltungsgericht Bologna (Italien) *

Inhaltsübersicht:

1.) DIE ITALIENISCHE VERWALTUNGSGERICHTSBARKEIT IM ALLGEMEINEN
2.) ZUSTÄNDIGKEITEN DER KAMMERN DES VERWALTUNGSGERICHTS BOLOGNA
3.) DIE SELBSTVERWALTUNG: DER PRÄSIDENTSCHAFTSRAT
4.) VERPFLICHTUNGEN DER RICHTER
5.) AUSWAHL UND BERUFUNG DER RICHTER
6.) DIE MÖGLICHKEIT FÜR DEN RICHTER, ANDERE TÄTIGKEITEN AUSZUÜBEN
7.) DIZIPLINARVERFAHREN UND VERANTWORTLICHKEIT
8.) DIE BEURTEILUNG DER RICHTER


1.) DIE ITALIENISCHE VERWALTUNGSGERICHTSBARKEIT IM ALLGEMEINEN

Die italienische Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine autonome Gerichtsbarkeit.

Sie ist von der ordentlichen Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte und der Strafgerichte getrennt.

Die Gründe dafür beruhen auf der Staatsgeschichte. Im neunzehnten Jahrhundert gab es in Italien die Monarchie. Der König wollte nicht, dass Akte der öffentlichen Verwaltung von den Richtern geprüft wurden. Die Streitigkeiten über die Akte der öffentlichen Verwaltung wurden deshalb dem Staatsrat zugeschrieben, das heißt einem Berater des Königs. Im Laufe der Zeit wurde dem Staatsrat nicht nur eine beratende Rolle, sondern auch eine gerichtliche Rolle zuerkannt.

Das Grundprinzip ist noch heute geblieben, dass den Zivilgerichten die Verfahren zugeschrieben sind, in denen man um die Anerkennung eines Rechts klagt, und den Verwaltungsgerichten die Verfahren, in welchen man auf die Aufhebung eines Verwaltungsaktes klagt.

Das italienische Grundgesetz hat die autonome Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit anerkannt, hat diese Gerichtsbarkeit als eine ordentliche Gerichtsbarkeit in den eigenen Fachgebieten gestaltet und hat vorgesehen, dass es nicht nur eine, sondern zwei Entscheidungsinstanzen geben soll. Das Verwaltungsgericht als Gericht der ersten Instanz findet also im Grundgesetz des Jahres 1948 die eigene Anerkennung.

Die italienischen Verwaltungsgerichte haben im Jahre 1971 ihre Tätigkeit aufgenommen. Für bestimmte Sachen, neben dem alten Zuschreibungsprinzip des Verwaltungsaktes, hat man neue Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit anerkannt. Dies betrifft insbesondere Verfahren, in denen nicht geprüft wird, ob es in der Sache um einen Rechtsanspruch geht oder um einen Verwaltungsakt.

Dazu gehören zum Beispiel Verfahren betreffend Baurecht, Bauplanung und Enteignung oder der Zugang zu Dokumenten, die Vergabe von öffentlichen Arbeiten, Diensten und Lieferungen oder der Ersatz eines Schadens, der von einem Verwaltungsakt verursacht wird.

Natürlich bleiben in dieser Perspektive die Strafsachen den Strafgerichten zugeschrieben.

Eine dritte Instanz gibt es nur, wenn wegen der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit geklagt wird. In diesen Fällen entscheidet der Kassationshof, das heißt das oberste ordentliche Gericht.

Ein Kläger kann sich für eine einzige Instanz entscheiden. Das ist möglich, mit bestimmten Ausnahmen (z.B. in Wahlverfahren), wenn man eine außerordentliche Klage an den Republikspräsidenten richtet. In diesem alternativen Verfahren wird die verbindliche Entscheidung vom Staatsrat getroffen. Dieses Verfahren dauert allerdings länger und wird nicht oft genutzt.

In Italien gibt es nicht nur ordentliche und Verwaltungsrichter.

Eigenständige Gerichtsbarkeiten sind:

  • Gerichtsbarkeit der öffentlichen Rechnungen. Sie entscheidet bezüglich der Verantwortlichkeit gegenüber der Verwaltung von Beamten und in Haushaltssachen der öffentlichen Hand;
  • Steuergerichtsbarkeit. Es gibt drei Instanzen. In der ersten und zweiten Instanz sind ehrenamtliche Richter tätig, das heißt ordentliche und Verwaltungsrichter, Rechtsanwälte und Steuerberater, die das Amt als zweite Tätigkeit ausüben. In der dritten Instanz ist die Zuständigkeit dem Kassationshof zugeschrieben.

2.) ZUSTÄNDIGKEIT DER KAMMERN DES VERWALTUNGSGERICHTS BOLOGNA

Das Verwaltungsgericht Bologna verfügt über zwei Kammern. Um eine Vorstellung von den Sachgebieten zu geben, die die italienischen Verwaltungsgerichte behandeln, wird die Verteilung der Fächer im Verwaltungsgericht Bologna zwischen der ersten und der zweiten Kammer wie folgt beschrieben:

2.a) ZUSTÄNDIGKEITEN DER ERSTEN KAMMER DES VERWALTUNGSGERICHTS BOLOGNA

  • Enteignungsverfügungen des Staates
  • Vergabe von öffentlichen Arbeiten und öffentlichen Lieferungen;
  • Universität, Schulausbildung, Forschung, Staatsexamen;
  • Verfügungen der Regionen;
  • Aufbau und Zusammensetzung  der öffentlichen Einrichtungen;
  • Infrastruktur und Transportwesen von staatlichem und regionalem Interesse;
  • Kulturgüter und Umwelteinschränkungen;
  • Umwelt, Gesundheit, Verschmutzung, Abfälle und Urbarmachung;
  • Öffentliche Anstellung und Wettbewerbe zur Anstellung (für nicht privatisierte Kategorien z.B. Militär, Professoren, Richter);
  • Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung;
  • Industrie und Handel;
  • Staatsbürgerschaft, Einreise und Aufenthalt im Gebiet des Staates (in diesem Rahmen sind die Asylverfahren ausgeschlossen, weil es bei ihnen um ein Recht geht, das den Zivilgerichten zugeschrieben ist)

2.b.) ZUSTÄNDIGKEITEN DER ZWEITEN KAMMER DES VERWALTUNGSGERICHTS BOLOGNA

  • Enteignungsverfügungen der Regionen und der Gemeinden;
  • Vergaben, die öffentliche Dienste betreffen;
  • Wahlen der Regionen und der Gemeinden (für die Wahlen zum Europäischen Parlament ist nur das Verwaltungsgericht Rom zuständig; für die Wahlen zum nationalen Parlament ist das Parlament selbst zuständig ohne Eingriff eines Gerichts);
  • Baugenehmigungen und Bauplanung;
  • Landwirtschaft und Wälder;
  • Öffentliches Eigentum;
  • Arbeit und soziale Leistungen (in diesem Rahmen sind den Verwaltungsgerichten die Fälle zugeschrieben, in denen die Verwaltung ein Ermessen ausübt;  den Zivilgerichten sind die Fälle zugeschrieben, in denen die Verwaltung kein Ermessen ausübt);
  • Berufsangelegenheiten

3.) DIE SELBSTVERWALTUNG: DER PRÄSIDENTSCHAFTSRAT

Die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit bringt mit sich die Selbstverwaltung. Die Verwaltung ist einer unabhängigen Körperschaft übertragen, die Präsidentschaftsrat genannt wird und deren Akte vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden können.

Die Mitglieder des Präsidentschaftsrats sind die folgenden:

  • der Präsident des Staatsrates, der Präsident des Präsidentschaftsrates ist;
  • 4 Richter, die von allen Richtern des Staatsrates gewählt werden;
  • 6 Richter, die von allen Richtern der Verwaltungsgerichte gewählt werden;
  • 4 Bürger, die vom Parlament gewählt werden und eine Verbindung mit der Politik haben sollen.

4.) VERPFLICHTUNGEN DER RICHTER

Zu den Verpflichtungen der Richter kann man folgendes ausführen:

Wenn bei einer Entscheidung ein Richter nicht mit der Mehrheit stimmt, kann er nicht die eigene Meinung bekanntgeben. Er hat aber die Möglichkeit, einen Zettel mit der eigenen Meinung in einem verschlossenen Umschlag in der Kanzlei zu hinterlegen. Der Umschlag darf nur geöffnet werden, wenn der Richter im Zusammenhang mit der Entscheidung zur Verantwortung herangezogen wird.

Der Gerichtspräsident soll eine Kommission ernennen, die über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (einschließlich Anwaltskosten) für Mittellose entscheidet. Diese Kommission wird aus zwei Richtern und einem Rechtsanwalt gebildet. Der Richter muss diesen Auftrag auch gegen seinen Willen und ohne Entgelt ausüben.


5.) AUSWAHL UND BERUFUNG DER RICHTER

Man muss zwischen Richtern der ersten (Verwaltungsgerichte) und der zweiten Instanz (Staatsrat) unterscheiden.

Die Berufung der Richter der ersten Instanz beruht auf einem Wettbewerb mit Verdiensttiteln, 4 schriftlichen Prüfungen und einer mündlichen Prüfung.

Die 4 schriftlichen Prüfungen sind die folgenden: Zivilrecht, Verwaltungsrecht, Steuerrecht und Entwurf eines Urteils.

Nur bestimmte qualifizierte Personen können sich bewerben: ordentliche Richter, Rechtsanwälte mit 8 Jahren Berufserfahrung oder Beamte der öffentlichen Verwaltung mit 5 Jahren Berufserfahrung.

Die Kommission besteht aus 5 Mitgliedern:

  • ein Präsident einer Kammer des Staatsrates oder der Präsident eines Verwaltungsgerichts als Präsident der Kommission;
  • ein Mitglied des Staatsrates;
  • ein Mitglied eines Verwaltungsgerichts;
  • zwei Professoren der Universität.

Jedes Verfahren findet etwa alle zwei Jahre statt, wobei sich regelmäßig etwa 1000 Kandidaten bewerben. 30 Kandidaten pro Durchgang haben Erfolg.

Beim Staatsrat gibt es drei verschiedene Wege der Berufung:

  • die Hälfte der freien Plätze wird von den Verwaltungsrichtern besetzt. Die Reihenfolge der Berufung erfolgt nach dem Dienstalter der Verwaltungsrichter;
  • ein Viertel der freien Plätze wird vom Ministerrat nach Ermessen ernannt;
  • ein Viertel der freien Plätze wird aufgrund eines Wettbewerbs besetzt, der ähnlich dem Wettbewerb für die Richter der Verwaltungsgerichte abläuft.

Jedes Wettbewerbsverfahren beim Staatsrat findet etwa jedes Jahr statt und etwa 100 Kandidaten bewerben sich. Etwa drei bis vier Kandidaten sind bei jedem Durchgang erfolgreich.

Da es beim Wettbewerb um qualifizierte Personen geht, gibt es keine Probezeit.

Der neue Verwaltungsrichter darf zwei Jahre keinem Gericht zugeteilt werden, das im Gebiet seiner vorherigen Tätigkeit liegt.

Die Richter dürfen grundsätzlich nicht an ein anderes Gericht versetzt werden. Das ist nur zulässig, wenn es um einen Fall von Befangenheit geht, bei dem es nicht mehr möglich ist, den Beruf unabhängig auszuüben.

Kein Richter darf länger als fünf Jahre in derselben Kammer verbleiben.


6.) DIE MÖGLICHKEIT FÜR DEN RICHTER, ANDERE TÄTIGKEITEN AUSZUÜBEN

Der Verwaltungsrichter darf eine andere Tätigkeit ausüben, wenn er dafür eine Genehmigung des Präsidentschaftsrats erhält.

Die Genehmigung darf nicht erteilt werden, wenn die Tätigkeit die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters oder das Prestige und das Bild der Verwaltungsgerichtsbarkeit beeinträchtigen würde.

Wenn eine öffentliche Verwaltung einem Verwaltungsrichter einen Auftrag erteilen will, darf sie nicht den Verwaltungsrichter aussuchen, sondern muss sie einen Antrag bei dem Präsidentschaftsrat stellen. Der Präsidentschaftsrat erteilt den einzelnen Richtern aufgrund objektiver Maßstäbe den Auftrag. Oft ist es so, dass die Verwaltung einem Richter den Auftrag erteilt und der Richter den Präsidentschaftsrat um Genehmigung bittet.

Der Präsidentschaftsrat der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist gegenüber jenem der ordentlichen Gerichtsbarkeit traditionell großzügig.


7.) DIZIPLINARVERFAHREN UND VERANTWORTLICHKEIT

Die Disziplinarstrafen sind:

  • die Warnung;
  • die Zensur;
  • der Verlust des Dienstalters;
  • die Versetzung;
  • die Entlassung.

Leider sind die Voraussetzungen der Disziplinarverfahren nicht gut beschrieben. So hat der Präsidentschaftsrat ein gewisses Ermessen.

Das Disziplinarverfahren für Verwaltungsrichter ist im Unterschied zum Disziplinarverfahren der ordentlichen Richter geheim.

Das Gesetz gibt für die Hinterlegung der Urteile eine Frist von 45 Tagen vor.

Trotzdem hat der Präsidentschaftsrat entschieden, dass für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens eine Frist von 6 Monaten vorausgesetzt wird.

Wenn im Gericht bewiesen wird, dass ein Urteil einen unberechtigten Schaden verursacht hat, kann der Betroffene nicht gegen den Richter vorgehen, sondern gegen den Staat. Der Ministerpräsident soll in diesem Fall gegen den Richter gerichtlich vorgehen, wenn der Richter den Schaden mit Absicht oder unentschuldbar verursacht hat.


8.) DIE BEURTEILUNG DER RICHTER

Eine Beurteilung der Richter erfolgt in den folgenden Fällen:

  • wenn der Richter befördert wird. Das ereignet sich zweimal: nach 4 Jahren seit der Ernennung und nach 4 Jahren seit der ersten Beförderung;
  • wenn der Richter Mitglied des Staatsrates wird; das ereignet sich nach etwa 17-18 Jahren seit der Ernennung;
  • wenn der Richter als Präsident einer Kammer oder eines Gerichts ernannt wird;  das ereignet sich etwa 22-24 Jahre seit der Ernennung;
  • wenn der Präsidentschaftsrat dem Richter einen zusätzlichen Auftrag verleiht.

Die Maßstäbe der Bewertung sind das Dienstalter und die untadelige Dienstausübung.

Zur untadeligen Dienstausübung zählen: sinnvolle und nicht wiederholte Verspätung bei der Hinterlegung der Urteile, Abwesenheit von Disziplinarstrafen, Abwesenheit von einer Versetzung wegen Befangenheit.

Damit ein Richter Mitglied des Staatsrates oder Präsident wird, werden auch die Urteile bewertet, die der Richter geschrieben hat.

Die tägliche Arbeit wird nicht kontrolliert. Kontrolliert werden die Anzahl der Urteile und die Anzahl der Fälle, die einem Richter zugeschrieben sind.

In Italien kann man die Akten von zu Hause aus bearbeiten, da der Prozess elektronisch geführt wird.

Die Anzahl der Fälle, die einem Richter zugeschrieben ist, wird vom Präsidentschaftsrat für alle Richter festgesetzt.

Der Präsidentschaftsrat kann darüber hinaus zusätzliche und freiwillige Programme festsetzen, in denen der Richter mehr Urteile zu schreiben hat und wofür ein bestimmtes zusätzliches Entgelt gezahlt wird.


* mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Marco Morgantini

Herr Dr. Marco Morgantini erwarb seinen Universitätsabschluss in Jura an der Universität Padua am 16. Dezember 1988. Am 28. Oktober 1999 hat er zusätzlich ein Spezialisierungsdiplom in Studien der öffentlichen Verwaltung an der Universität Bologna erworben.

Nachdem er zunächst mehrere Jahre als Gemeindesekretär gearbeitet hatte, ist er seit dem 1. Dezember 2004 als Verwaltungsrichter zunächst in Catanzaro, dann in Venedig und derzeit in Bologna tätig. Zudem ist er als Steuerrichter im Ehrenamt vom 10. Oktober 2014 bis zum 31. Oktober 2017 tätig gewesen.

Er hat an mehreren internationalen zweiwöchigen Wechselerfahrungen teilgenommen und zwar an folgenden in Deutschland und Österreich:

2009: Verwaltungsgericht Frankfurt am Main;

2010: Verwaltungssenat Klagenfurt;

2012: Verwaltungsgericht Kassel;

2015: Verwaltungsgericht Ansbach;

2016: Verwaltungsgerichtshof München;

2017: Verwaltungsgericht Potsdam;

2018: Verwaltungsgericht Darmstadt;

2019: Verwaltungsgericht Cottbus.

Des Weiteren hat er an den Verwaltungsgerichtstagen in Münster (2013) sowie in Darmstadt (2019) teilgenommen.

Er ist Mitglied der Umweltgruppe der europäischen Vereinigung der Verwaltungsrichter.


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